Foto: Mattias Nutt, mattiasnutt.ch

Wenn ich an Leadership denke, kommen mir unweigerlich meine Erfahrungen als Offizier der  Militärmusik in den Sinn. Nur spricht man dort nicht von Leadership, sondern von Führung. Ich habe  also mit meinem Offizierskameraden, einem Feldweibel und 10 Unteroffizieren 17 Wochen lang  einen Zug geführt. Das ist in meinem Fall eine gut besetzte Brass-Band (ein Orchester  ausschliesslich aus Blechbläsern und Perkussionisten) sowie ein Küchen- und ein  Betriebsdetachement – insgesamt ca 80 AdAs (Angehörige der Armee). Es wurde zur Erfahrung,  die mir den naiven Glauben zerschlug, alles, was ich wirklich wollte, könne ich mit Bravour schaffen.  Klar, wir haben die RS, die Rekrutenschule „geschafft“, aber es gab kein riesiges „Bravo“ am Schluss  – weder von meinen Vorgesetzten, noch von meinen Unterstellten. Und vorallem habe ich mich  selten wohl gefühlt in meiner Rolle. Daher frage ich mich, ist Leadership überhaupt etwas für mich?  Gab es im Militär Momente, wo ich dachte: „Dafür wurde ich Offizier“? 

Ja, die gab es. Einmal vor dem Mittagessen – die ganze Truppe ging gerade das Treppenhaus hoch,  – bemerkte ich, dass ein Unteroffizier einen ungewohnten Ausdruck in den Augen hatte und sich  zurückfallen liess. Ich blieb bei ihm und fragte, ob alles in Ordnung sei, worauf er in Tränen  ausbrach. Es war gerade alles zu viel. Lösen konnte ich die Schwierigkeiten nicht, aber ich konnte  zuhören, zulassen, einfach da sein. Später hat er sich bei mir bedankt. Ich antwortete, das sei mein  Job, genau dafür möchte ich da sein.  

Gegen Ende der RS waren wir einige Tage in St. Moritz in einer ZS (Zivilschutzanlage). An diesen  Abenden hatte das Kader grosse Mühe, beim Lilö (Lichterlöschen) die Nachtruhe durchzusetzen.  Einige Sdt (Soldaten) haben sich schlicht nicht an die Anweisungen ihrer Vorgesetzten gehalten  und damit diese an ihre Grenzen gebracht. Nach einem solchen schwierigen und anstrengenden  Lilö war ein Teil des Kaders draussen vor der Unterkunft und versuchte, etwas herunterzufahren.  Dabei tauchten grundlegende Fragen auf: Müssen wir wirklich so streng sein bei der Nachtruhe?  

Was wäre, wenn wir alles ein bisschen lockerer nehmen würden? Warum müssen gewisse Sdt sich  immer querstellen? Aber vorallem: Warum wird mir nicht gehorcht? Was mache ich falsch? Es wurde  ein sehr ehrlicher Moment, wo im Miteinander-Denken offene Feedbacks möglich wurden. Plötzlich  hatten auch ganz persönliche, teils schwierige Geschichten Platz.  

In diesen Momenten fühlte ich mich als Vorgesetzter gebraucht, sie gaben mir Sinn. Kann ich  solche Situationen aktiv suchen? Wohl kaum. Aber was immer geht, ist Raum geben. Als innere Grundhaltung, aber auch aktiv, in dem man Zeiten frei lässt, Gemeinschaft stärkt, Dialog fördert  und Druck wegnimmt, da wo die Leute sich selbst bereits genug Druck machen.  

Es gab also schöne Momente mit dem Kader, aber ich war ja Co-Vorgesetzter eines ganzen Zuges.  Und mit 80 Leuten kann man schwierig jedem Raum geben, für jeden da sein, mit allen Gespräche  auf Augenhöhre führen. Wichtig wird dann in meinen Augen die fachliche Kompetenz. Gute  Organisation, klare Kommunikation. Und vor dem Orchester: Eine spannnende, lehrreiche Probe.  Viel zu oft habe ich meine fachlichen Kompetenzen in den 17 Wochen hinterfragt! Teils begründet,  teils hatte ich zu hohe Ansprüche an mich selber. Was mir bleibt: In der Position des Vorgesetzten  gibt es Momente, wo man sich selbst die fachliche Kompetenz einfach mal zusprechen muss. Dort  beginnt es nämlich! Wenn ich nicht an mich glaube, wie viele von den 80 tun es dann?  

Trotz aller Unsicherheiten glaube ich, zumindest eine Kompetenz tatsächlich erworben zu haben:  Klare und kurze Kommunikation vor der Truppe. Deutlich und direkt, aber sachlich und wertfrei.  Im Militär ist man selten freiwillig. Man muss jeden Tag früh aufstehen, hat wenig Freizeit und wird  gezwungen, sich in hierarchische Strukturen einzuordnen. Es ist nur logisch, dass die Stimmung  und auch die Gesinnung gegenüber den Vorgesetzten nicht immer positiv ist. Auch in solchen 

Momenten, wo ich eine „negative-Energie“ spüre, kann ich gut kommunizieren. Die Demotivation  wird nicht plötzlich zur Motivation, aber ich kannn eine Abwärts-Spirale verhindern.  

Eine ganz andere Situation erlebte ich vor dem TdA (Tag der Angehörigen), an dem wir einen  Einblick in unseren RS-Alltag geben. Ich sollte mit dem halben Orchester den Fachdienst  (Orchesterproben, Übezeit und Musiktheorieunterricht) unterhaltend, attraktiv und möglichst auch  etwas witzig vorstellen. Wie, das war unserer Kreativität überlassen.  

Ich stand also vor den Soldaten und merkte: meine Kompetenz, trotz negativer Energie sauber zu  kommunizieren, nützt mir gerade gar nichts. In dieser Situation war ich angewiesen auf  Partizipation. Ich musste nicht Infos durchgeben, sondern die Leute zum Mitdenken anregen, sie  emotional abholen, wenn möglich sogar begeistern und ihr kreatives Potential freilegen. Ich war  angewiesen auf das Gegenüber, ich war angewiesen auf Beziehung und ich war komplett  überfordert. Sehr dankbar war ich deshalb einigen Sdt, die mitdachten und kreative Ideen  brachten, dank denen wir doch noch ein gutes Programm auf die Beine stellen konnten.  

Ich habe gemerkt: Gut kommunizieren zu können trotz negativer Energie, ist super, aber damit will  ich mein Leben nicht verbringen. Viel lieber möchte ich in einem Umfeld wirken, das kreativ  partizipierend Lösungen sucht. Denn dort heisst für mich Verantwortung in grossen Teilen Raum  geben, Gemeinschaft stärken, Dialog fördern.  

Ist Leadership jetzt etwas für mich? Kommt wohl auf das Wo und Wie an. Aber so oder so ist es ein  grosses Lernfeld.